2018.07.01
Cherry Gehring > PUR
Eine knappe Woche dauern die Vorbereitungen für eine Show der Superlative: Sky überträgt live ausnahmsweise mal keinen Fußball aus der Schalke-Arena, die Liste der Gäste indiziert ein feines Händchen und spannende Kollaborationen und die Technik übertrifft vieles, was man sonst so auf Stadiontouren auch von internationalen Acts sieht. Es ist klar, warum dieser ungewöhnliche Gig Ausgabe für Ausgabe innerhalb kürzester Zeit ausverkauft ist. Cherry Gehring ist pünktlich und freut sich die KORG-Delegation in der Lobby des Gelsenkirchener Hotels seiner Wahl zu begrüßen. Uns gegenüber steht ein Mann Anfang Fünfzig, seine wilden Locken, die sicher auch schon mal noch wilder waren, fallen ins Auge. Es ist sehr offensichtlich, dass da einer in größtmöglicher Lockerheit sein Tagwerk beginnt und überhaupt kein Problem damit hat, eine paar Schulterblicke zuzulassen und kostbare Minuten zu investieren für die neugierigen Besucher.
Cherry, wir sitzen mitten in der Arena „Auf Schalke“, gleich erleben wir Sequenzen des Soundchecks zu einem gewaltigen Konzert, das PUR in dieser Form bereits zum sechsten Mal spielt; wie kam es dazu?
2001, ziemlich kurz, nachdem die Arena fertig war, kam Rudi Assauer auf uns zu und hat gefragt, ob wir nicht mal hier spielen wollen; er ist ein großer Fan unserer Musik. Wir haben das dann gemacht, eigentlich sollte das bei dem einen Mal bleiben. Der Erfolg war aber derartig groß, dass dann immer wieder die Anfrage kam und so ist es dann morgen die sechste Ausgabe von „PUR & Friends“. Eigentlich wiederholen wir das so etwa alle drei Jahre, meistens im konzertfreien Jahr, bevor wir wieder ins Studio gehen, um eine neue Platte einzuspielen.
Wir sind jetzt vielleicht eine knappe Stunde hier und man bekommt schnell eine vage Vorstellung davon, was dieser Gig für einen Aufwand verursacht und dabei meine ich nicht mal unbedingt den riesigen zweiten Videowürfel. Kannst Du uns bitte mal mit hinein nehmen in die Vorbereitungen?
Ja, wenn wir kommen, haben die Jungs den größten Teil der Arbeit ja schon erledigt. Samstags ist unser Konzert, seit dem vergangenen Sonntag arbeitet hier das Team am Aufbau, da werden die Trucks reingefahren, die Technik und Bühne ausgeladen, beides wird sehr aufwändig gebaut, dann kommt die Verkabelung und wenn wir Mittwochabend anreisen, schauen wir, ob alles richtig steht. Unsere Backliner sind dabei und die kümmern sich gut um uns, wir checken bereits möglichst viel, etwa wie wir uns hören und am nächsten Tag geht’s dann schon richtig los: Stellprobe fürs Licht, wir spielen verschiedene Sachen an und bereiten alles für Freitag vor. Da ist traditionellerweise abends Generalprobe mit unseren Fanclubs, da spielen wir das komplette Set vor rund 1000 treuen Fans. Vorher steht für uns über einen längeren Zeitraum noch der Soundcheck mit den musikalischen Gästen an. Am Samstag, dem Konzerttag selbst ist es für uns eher ruhig, wir schlafen und versuchen abends dann auf den Punkt topfit zu sein. Arbeit gibt es noch für die Techniker, die noch an den Dingen schrauben, die während Soundcheck und Generalprobe nicht so gut gelaufen sind.
Der Cousin war es, auf den knackigen Vornamen Uwe hörend, der mir auf einem schnöden Kassettenabspielgerät „Hab mich wieder mal an dir betrunken“ vorspielte. Ich war verblüfft und meine erste Freundin, süß, blond, große Klappe, fand die Stimme von Hartmut Engler toll und irgendwie sowieso alle Songs, die auf den hübschen Alkoholmetapherpremierenhit samt launiger Hook folgten. Es war dann wohl der logische nächste Schritt, Händchen haltend und mit einer quantitativ beachtlichen Delegation im Schlepptau eine mittelgroße Multifunktionslokalität im Hessischen aufzusuchen, um den schwäbischen Neuhelden beim Livemusizieren zu lauschen. Und siehe da, es spielte eine Band auf, die nicht nur zwei Drummer gleichzeitig zu beschäftigten wusste, sondern auch mit einer Präsenz aufwartete, die man zum damaligen Zeitpunkt mit einer dann doch überschaubaren Anzahl an Gigs auf der Erfahrungshabenseite nicht unbedingt erwarten durfte.
Aber wenn es eine Konstante in den PUR-Dekaden gibt, dann die unbesiegbare Spielfreude und sehr hohe handwerkliche Qualität aller Beteiligten. Ein Umstand, der sich bis heute nicht verändert hat. Noch immer füllt PUR jede Lokalität unabhängig von ihrer Größe und Herausforderung, wohlgemerkt, wir sitzen an diesem ersten, sehr windigen Septembertag in der Schalke-Arena.
Die öffentliche Rezeption der Mannschaft um den weiterhin charismatischen Frontmann Hartmut Engler hat sich im Laufe der Zeit massiv verändert. Ungeachtet eines laut quiekenden Phrasenschweins muss man nach Intensivrecherche und erneut persönlicher Begegnung in diesem Kontext zwingend schlussfolgern, dass die Herren erwachsen geworden sind. Wohlgemerkt, erwachsen, nicht müde, schon gar nicht weniger leidenschaftlich. Den Verlockungen des Boulevard und Starschnitt-Versprechen erliegt im Hause PUR schon gefühlte Jahrzehnte keiner mehr. Bravo!
Zurück zu Cherry Gehring, der also seit nunmehr 16 Jahren Teil dieser deutschen Heldengeschichte sein darf. Nicht hoch genug einzuschätzende Fertigkeiten an allerhand Tasten und seine sehr wertvollen Backing Vocals sind aus dem PUR-Soundgewand nicht mehr wegzudenken. Überhaupt ist der humoristisch ebenfalls begabte Herr Gehring ein musisch überaus umtriebiger Geselle ohne jedwede Berührungsangst.
Außerhalb von PUR singt und spielt Cherry in seiner eigenen Combo, für die er praktischerweise auch als Namensgeber fungiert. Er hat wiederkehrende Soulprojekte und wir haben Big Band-Ausflüge, natürlich gibt es weitere Gastsessions mit illustren Größen wie Bobby Kimball (jaaa, das ist der von Toto) oder Steve Hackett (jaaa, das ist der von Genesis) oder Maggie Reilly (jaaa, das ist die von Maggie Reilly). Nicht verwunderlich ist ob dieser Bandbreite, dass der hart erarbeitete, definitiv pompöse Lebenslauf von Cherry Gehring auch klassische Kunst impliziert, etwa die Händelfestspiele in Halle; was eine schicke Alliteration. Bliebe Comedy. Kann er? Kann er! Zur Jahrhundertwende gründete Multitalent Cherry das Trio „Backbleck“, begleitet von Rezensenten-Lobhudelei und Publikumsgunst. Es gibt also viel Gesprächsstoff mit diesem immer noch jungen Tastenmenschen. Fragen wir doch mal, ob er mit seinem Job auch einen Traum lebt.
Seit 1993 besteht enger Kontakt zu PUR, seit 2001 bist Du regelmäßiger Bestandteil der Band; lebst Du Deinen persönlichen Traum als Musiker, oder besser: Künstler?
Ja und Nein. Ich bin irgendwann mal losgezogen, um Musik zu machen. Es geht nicht darum, möglichst viel Geld zu verdienen. Ich wollte einfach Musik machen und… ja, und den Mädels gefallen; Leidenschaft in jeder Beziehung (großes Gelächter, Anmerkung der Redaktion). Nee, im Ernst, es ist natürlich toll, wenn du Lust hast Musik zu machen und dann auf so eine Band stößt.
Wie kam es zum Kontakt mit PUR und schließlich dann auch zur Zusammenarbeit?
Der erste Kontakt war 1993. Ich arbeitete in einem großen Musikgeschäft in Stuttgart und hatte insgesamt sehr gute Voraussetzungen für einen Einstieg. Alle denkbaren Umstände passten. Die Jungs von PUR schauten immer mal wieder bei Konzerten meiner und David Hansemanns Band „The Dudes“ vorbei. Sie kannten uns also und unsere Möglichkeiten. Nachdem sich Hartmut Engler den Oberarm gebrochen hatte, unterstützte zunächst David ihn gesanglich. Kurze Zeit später hörte Ingo Reidls (erster Keyboarder von PUR, Anmerkung) Backliner mitten in der „Seiltänzertraum“-Tour auf und Ingo fragte mich, ob ich ihm helfen könne. Relativ schnell kamen dann auch noch Backing Vocals dazu, von „Abenteuerland“ an war ich dann auch auf den Produktionen dabei.
Wie gesagt, es ist wirklich großartig, fester Teil einer solchen Band zu werden, auch wenn es durchaus Zeiten gab, in denen wir nicht wussten, ob das alles noch so funktioniert. Gott sei Dank gibt es mittlerweile wieder mehr gute, funktionierende deutsche Acts, das war phasenweise nicht so, in den Neunzigern beispielsweise. Klar, Grönemeyer, Maffay, Westernhagen, Lindenberg gab es immer und wird es immer geben, aber mehr war lange Zeit nicht.
Gerade, was jetzt hier das Schalke-Konzert betrifft denken wir bei jeder Ausgabe, dass es das jetzt war. Und dann machen wir es doch noch mal und sagen wieder im Vorfeld: „Okay, ein letztes Mal noch!“ Fakt ist, wir sind wieder hier. Man muss dabei aber auch sehen, dass wir das Stadion ausverkaufen, weil unsere Fanbase tatsächlich weiter gewachsen ist…
…mit Euch älter geworden; kann man das so sagen, ohne despektierlich zu sein?
Ja, das ist sicher so. Aber was mich wirklich beeindruckt ist, dass die Fans der ersten Stunde ihre Kinder mitbringen und manchmal sogar auch schon ihre Enkel. Die Liebe zu PUR wird also quasi vererbt.
Kleiner gedanklicher Einschub auf Autorenseite, Blick zurück nach vorne sozusagen: Jungs kennen das in einer Jungsvariation, Mädchen entsprechend. Blau und Rosa irgendwie. Eigentlich möchte man immer das Gegenteil dessen tun, was Erziehungsberechtigten so an Vorschlagsgut durch die stirngerunzelten Köpfe schießt. Bei dem einen kommt die Sache mit den ersten Instrumenten früher, bei der anderen später. Sehr selten leider nie. Eines ist aber in aller Regel sicher: Irgendwann rückt die Mama mit der Sprache raus und Papa hat eine spitzenmäßige Idee: „Klavier spielen wäre doch super.“ „Oder Melodika?“ „Der nette Junge aus der Nachbarschaft spielt so toll Trompete; willst du nicht auch mal probieren?“
Es gibt eben Dinge im Leben, die ändern sich nie. Die ersten mehr oder wenigen freiwilligen Schritte auf musischem Terrain gehören sicher dazu. Meistens resultiert Leidenschaft, manchmal Therapien, später dann, wenn Mama nicht mehr die Wäsche macht und unter Papas Tisch nur noch Papas Füße stehen. Bei einem derart vielfältig veranlagten und hochbegabten Künstler wie Cherry Gehring muss die Sozialisierung doch außergewöhnlich gewesen sein. Oder ist doch was dran am Gott gegebenen Talent? Nachfragen macht häufig Sinn.
Wann hast Du gewusst, dass für Dich nur ein Job, der des Musikers infrage kommt und wie kam es dazu?
Tja, ich bin eines der Blockflötenkinder, eine wirklich furchtbare Erfahrung, auch wenn unser Bassist Joe Crawford jetzt möglicherweise sehr böse auf mich sein wird; er hat Blockflöte tatsächlich studiert. Als meine gepeinigte Lehrerin meinem Vater dann auch noch mitteilte, ich solle es doch mal mit Fußball probieren, da wäre ich für die Musikwelt fast verloren gewesen. Der Wendepunkt kam dann aber tatsächlich über meinen Vater. Er hat selbst immer Musik gemacht, als Teil eines Trios, später auch alleine. In unserer Familie spielte Musik also eine große Rolle, vor allem aber stand Zuhause eine Hammond-Orgel herum, mit der mich mein Vater irgendwann bekanntmachte.
In der Pubertät spielte ich dann auch Klarinette und kam dort mit Harmonielehre und Noten in Kontakt. Erst im Alter von 15 etwa habe ich mich dann konsequenter auf Tasteninstrumente eingelassen, konkret auf Synthesizer und besagte Orgel. Mein erster Synthesizer war ein KORG MS-20 Monophon. Der MOOG war für mich absolut unerschwinglich und der MS-20 für musikalische Experimente und zum Kennenlernen perfekt. Eine breite musikalische Inspiration kam ebenfalls von meinem Vater. Er brachte mich recht früh mit Schlager, Volksmusik, diesem Schunkelzeug, aber auch den Beatles in Berührung.
Man spürt recht schnell, dass Deine künstlerische Neugier sich überhaupt nicht kontrollieren lässt. Gibt es denn überhaupt so etwas wie eine musikalische DNA von Cherry Gehring?
Ja, sicher gibt es die. Ich möchte es mal versuchen, so zu beschreiben: Musik ist für mich wie eine starke Schwingung und wenn die mich erreicht, mich berührt, spielt das Genre überhaupt keine Rolle. Irgendwann kam in meiner Entwicklung eine Rebellion, also, so eine Art Rebellion, wenn man das so nennen will; ist eben immer schwierig mit einer Rebellion, wenn der Papa auch Musiker ist. Ich hab‘ aber tatsächlich Udo Lindenberg für mich entdeckt, weil ich ihn verstanden habe und weil es Rockmusik war. Dann kamen erst langsam andere Genres und Bands wie Queen oder Van Halen auch im Rockbereich dazu. Oder Soul, vor allem Stevie Wonder, seine Platte „Songs in the key of life“ fasziniert mich bis heute, wenn ich rein höre. Insgesamt war ich tatsächlich sehr offen für verschiedene Stile, das blieb dann breitgefächert.
Ein einschneidendes Erlebnis hatte ich 1980 bei einem Gig von AC/ DC in Böblingen. Die haben komplett ohne Keys gespielt, aber diese Konzerterfahrung hat mich aus den Schuhen gehauen. 1984 durfte ich dann erstmals Stevie Wonder live erleben: Diese Melodien, dieser Groove, diese Stimme, Wahnsinn! Die Liste lässt sich beliebig fortführen. Im vergangenen Jahr waren es die Jungs von Coldplay, Chris Martin und seine Kumpels. Auch dieses Konzert war absolut großartig. Du kannst also sehen: Der Rocker trifft den Soulmenschen auf einem Popkonzert. Diese Genres begeistern mich gleichermaßen, grundsätzlich begegne ich jedem Musiker und seiner Kunst absolut offen und ohne Berührungsangst.
Wie hat Dein Vater auf die Wandlung reagiert, um mal die Begrifflichkeit Rebellion zu vermeiden?
Er hat gesehen, was ich höre und meinte, dass ich einige Platten nicht kaufen müsse, weil er sie auch hat und sie mir leihen könne. (wieder Gelächter, Anmerkung der Redaktion). Ne, ich glaube, als er meine zerfetzten Jeans gesehen hat und den Aufnäher auf dem Rücken mit Linderberg-Konterfei und „Keine Panik“-Schriftzug, da hat er sich schon an den Kopf gefasst, fand er in Summe eher nicht so stark. Heute ist das lockerer mit meinen Kindern. Ich höre schon auch deren Kram, Katy Perry, Ed Sheeran, ich will ja wissen, was die machen, und im Grunde gehört es ja auch zu meinem Job.
Es liegt ja in der Natur der Sache, dass man als Band vor allem auf Tour viel Zeit miteinander verbringt. Da ist es schon von Vorteil, wenn man sich menschlich richtig gut versteht, was bei uns ohne jeden Zweifel so ist. Vielleicht ist das eben auch so, weil sich jeder hin und wieder Auszeiten gönnt, sonst gehen einem auch irgendwann die Worte aus.
Und ja, der Eindruck täuscht nicht: Es gibt diesen Teamspirit definitiv. Das liegt auch daran, dass jeder seine Rolle kennt und akzeptiert. Das ist wie beim Fußball, jeder in der Mannschaft hat seine Aufgabe, jeder weiß um die Stärken und Schwächen des Anderen, jeder weiß, wohin die Pässe kommen, jeder weiß, wo der Andere steht. Und wir sind Menschen, es gibt immer wieder Zeiten, wo es einem nicht so gut geht, dann ist es wichtig, dass die Teamkollegen hinter dir stehen und für dich da sind. Das alles haben wir. Wir sind Freunde. Das heißt aber nicht, dass es im Proberaum nicht auch zur Sache gehen kann, da wird dann schon gearbeitet, bei aller Leidenschaft, aller Freude und jeder Menge gutem Humor.
Das öffentliche Image von PUR hat sich in den vergangenen 15 Jahren doch spürbar verändert, manchmal landet die Band in einer Schlagerecke, mal glaubt man, eine gewisse Arroganz beziehungsweise auch Ignoranz insbesondere bei der medialen Rezeption ausmachen zu können. Teilst Du diesen Eindruck und wie geht ihr als Band mit dieser Form der Öffentlichkeit um, die sich ja eben überhaupt nicht an abnehmendem Erfolg oder verminderter Akzeptanz beim Publikum festmachen lässt?
Es ist zu vergleichen mit einem weltweit bekannten Fastfood-Unternehmen: Im Grunde halten alle diese Burgertempel für unmöglich und trotzdem sind die Läden ziemlich selten nicht voll. Mitte der Neunziger, zur „Abenteuerland“-Zeit, waren die Rezensionen oft unter der Gürtellinie, das hat uns ohne Zweifel häufig geschmerzt.
Mittlerweile sehen wir Kritiken oder auch allgemein Berichterstattung sehr viel gelassener. Natürlich ist sehr viel auf Hartmut Engler fokussiert und ich kann nur sagen, dass er über die Jahre nichts verloren hat von seiner Authentizität. Er bekommt dieses im Scheinwerferlicht stehen wirklich sehr gut hin, das war auch bei „Sing meinen Song“ wieder zu sehen. Und man konnte Hartmut von einer ganz neuen Seite kennenlernen, die Tiefe, die Echtheit seines Songwritings. Dieser Auftritt hat uns auch als Band sehr viel gebracht, gerade im Hinblick auf jüngeres Publikum, die uns vorher nur vom Hörensagen kannten und sich danach wohl intensiver mit der einen oder anderen Platte beschäftigen wollten.
PUR wird ab und zu immer noch etwas belächelt. Was soll ich dazu sagen? Vielleicht: Geht auf ein Konzert! Schaut es Euch an! Tausende glückliche Menschen singen, tanzen, haben Spaß miteinander und mit uns. Es ist auch heute noch so, dass man an PUR nicht vorbeikommt. Wie sagt man so schön? Diese Band ist Kult, eine Legende. Natürlich ist und bleibt Musik immer Geschmacksache, was super ist. Anerkennung und Respekt sollte man aber unabhängig vom eigenen Geschmack jedem Künstler und jeder Band entgegenbringen; insbesondere denen, die über einen derart langen Zeitraum erfolgreich gearbeitet haben.
Ist die Authentizität auch der Schlüssel für die Bindung der Fans? Wenn die plötzlich merken, dass der lustige Typ da auf der Bühne von seinem Leben singt und sie vielleicht Parallelen in ihrem eigenen Leben entdecken?
Ja, ich glaube, das ist so. Bei uns geht viel über die Texte und jeder entwickelt bei unseren Songs seine eigenen Bilder, im Grunde eine eigene Geschichte. Das ist ein verbindender Punkt, es verbindet uns mit den Fans und andersrum, es verbindet aber auch die Fans untereinander. Die haben eigene Communities aufgebaut, wo ein reger Austausch stattfindet, natürlich auch über die Themen der Songs, das ist klar.
Die Popularität deutschsprachiger Musik gleicht einer Achterbahnfahrt: Mal dick im Geschäft, dann wieder verpönt, uncool, und schließlich wieder gefragt. Momentan erleben wir diese Phase mit vielen, sehr talentierten, auch selbstbewussten deutschen Musikern, die derart stark performen, dass es längst keine Diskussion über eine deutsche Quote im Radio mehr gibt. Wie siehst Du die Zukunft deutschsprachiger Musik und welche Rolle spielt PUR dabei?
Schwierig zu beantworten, auch in den mauen Zeiten gab es ja Entwicklung. Denk mal an Edo Zanki, was der auch in den Neunzigern verantwortet, sein Einfluss auf Xavier Naidoo hat immens viel in Bewegung gebracht. Ich denke, dass die Musiker heute sehr viel mehr Möglichkeiten haben, in Sachen Ausbildung ebenso wie beim Vertrieb, der sich beispielsweise ganz locker übers Internet organisieren lässt. Überleg mal, was du alles an Musik und Einfluss übers Netz bekommst, weltweit. Im hintersten Winkel Australiens nimmt einer mit seinem Didgeridoo eine Platte auf und du kannst sie 25 Flugstunden entfernt einfach anhören. Oder du lässt dich inspirieren, wie spielt der Musiker den Kram, wie macht er das, wie löst er dieses Problem.
Du hast nach meiner Einschätzung gefragt; ich glaube, diese Möglichkeiten heute sind Segen und Fluch zugleich. Es gibt extrem viele Musiker heute, die theoretisch jederzeit auch eine größere Öffentlichkeit erreichen können. Obwohl diese Chance sozusagen greifbar nah ist, schafft es aber längst nicht jeder, weil es eben nicht nur großes Talent braucht, sondern authentische Typen, unser Thema von eben. Jemanden wie Mark Forster, bei dem die Menschen sofort merken, dass er echt ist.
Mit PUR hast Du alle Formen eines Gigs erlebt, angefangen bei der Bühnengröße über inhaltliche Schwerpunkte wie Unplugged- Auftritte, unterschiedliche Line-ups. Wo und wie spielst Du am liebsten?
Jede einzelne Variation hat einen Reiz, das ist tatsächlich so. Wenn wir in einem dieser ominösen Clubs, von denen immer alle Musiker reden, vor einhundert Besuchern spielen, bekommen wir die Reaktionen des Publikums sehr viel direkter, unmittelbarer, ungefilterter mit, wir sind schlicht und ergreifend mittendrin. In den großen Arenen sieht man leider nicht wirklich viel, wenn das Licht ausgeht. Aber die Energie von 15.000 oder 70.000 Menschen im Publikum wie morgen in diesem ziemlich coolen Stadion spüre ich sehr stark. Das sind wirklich intensive Momente, wenn du hier auf die Bühne kommst oder wenn wirklich alle mitsingen; da musst du als Musiker schon aufpassen, dass du nicht wegfliegst. Es ist extrem wichtig, konzentriert zu bleiben, trotz aller Euphorie und Adrenalin und Gänsehaut.
Spielerisch sind es die Arrangements, die sich mit der Location natürlich schon ändern, abhängig davon, ob wir eben akustisch oder mit vollem Besteck spielen.
Viel stand in den vergangenen Wochen natürlich im Zeichen dieses Events morgen. Trotzdem spielen wir schon einen neuen Song, den wir so weit entwickelt haben, dass er reif fürs Publikum ist. Was neues Material angeht, gibt es nie Auszeiten: Ingo, Martin und Hartmut arbeiten permanent an neuen Ideen und Songs und ich kann versprechen, dass am Ende dieses Prozesses sehr gute Songs stehen werden. Die neue Platte wird 2018 kommen und im Spätsommer startet dann auch die Promo dafür: Wir gehen auf Tour.
Leidenschaft ist bei diesem Menschen nicht zu leugnen, schießt mir durch den Kopf. Im Gegenteil: Cherry Gehring vereint alle diese anziehenden, charismatischen Eigenschaften in sich, die das Publikum treu sein lassen und Musiker selbst mit höchsten Sympathiewerten in Verbindung bringen. Diese schlichte, ungebeugte Leidenschaft für das eigene Tun und die beinahe kindliche Freude daran. Und selbstverständlich geht es darum, diese Freude mit Menschen zu teilen.
Apropos Leidenschaft: Reden wir über doch ein bisschen über Technik. Spielt die Hardware eines Künstlers im Allgemeinen und die eines Keyboarders im Speziellen überhaupt eine Rolle im Zusammenhang passionierter Musik? Eine imaginäre Frage, die sich zwischen den Zeilen einiger real gestellter Fragen wiederfindet und die Cherry Gehring wohl mit einem ungläubigen Staunen im Blick beantworten würde, hätte ich es gewagt, sie auch wirklich zu stellen. Weiter jetzt, hören, staunen.
Du bist seit geraumer Zeit ein KORG-Fanatic, spielst gleich zwei KRONOS? Was unterscheidet den KRONOS von anderen Keys?
Bei PUR ist meine klar definierte Aufgabe, zusätzliche Key- Sounds zu spielen. Konkret bedeutet dies, dass ich in einem Song oftmals sieben oder acht Sounds vom Pad über Orgel bis zu Synthesizer-Sounds, Effekten, Streicherlinien zum Einsatz bringe; das ist mit dem KRONOS unübertroffen leicht zu realisieren und die Sounds passen sehr gut zu PUR. Andere Sounds wiederum bastle ich komplett selbst, wie zum Beispiel das Synthie- Intro von „Wer hält die Welt“. Oft nehme ich aber auch bestehende Sounds des KRONOS und verändere Sie für die Songs entsprechend unserer Bedarfe.
Sehr gut ist für mich auch die Setlist-Funktion, um schnell zwischen den Titeln umzuschalten oder kleine Korrekturen während des Spielens vorzunehmen. Mein Live-Setup wie jetzt auch hier „Auf Schalke“ besteht bei PUR aus zwei KRONOS, beide spiele ich autark. Die Keys sind so programmiert, dass bei einem Ausfall, was nebenbei bemerkt noch nie passiert ist und ich auch nicht erwarte, alles auch auf dem jeweils anderen funktioniert; eine ideale Lösung für mich. Den oben platzierten KRONOS verwende ich hauptsächlich für Orgelsounds, die unglaublich gut klingen, und die eben erwähnten Pad-Sounds. Mit dem unteren KRONOS spiele ich Strings, Melotron und Synthie-Sounds. Im Gegensatz zu anderen Synthesizern funktionieren die KRONOS- Grundsounds oft nur minimal modifiziert schon sehr gut zu unserer Musik.
Kann es neben dem KRONOS überhaupt etwas anderes geben, will man Dich da fragen und tut es schließlich auch?
Haha, ja, das solltest Du wohl. Über Jahre hatte ich nicht nur bei PUR, sondern auch in meinen anderen Bands immer eine alte KORG CX 3 und eine O1w/FD am Start. Aber wie wohl bei jedem Keyboarder stehen am heimischen Herd sozusagen noch einige Klassiker, eine Hammond, Rhodes, CP 70, Wavestation, M1, Super Jupiter, Nordlead, DX7. Wenn auch zum Teil sauber verpackt...
Das klingt nach vielen Möglichkeiten, was mich nur bedingt wundert. Bist Du denn ein Tüftler, der über neuen Sounds die Zeit vergisst?
Als Keyboarder ist es unumgänglich, sich mit Sound und dem ganzen virtuellen Angebot deines Arbeitsgerätes auseinanderzusetzen. Ich arbeite sehr gerne mit „Reason“ und „Logic“, um Sounds zu kreieren und Ideen festzuhalten. Es ist eine wirklich große Freude, mit dem KRONOS zu experimentieren und zu arbeiten. Ich ziehe es übrigens immer noch vor, eine Bühne mit Hardware zu betreten und da ist der KRONOS im Grunde alternativlos.
Sprach er und hinterließ viele wahre Worte und gute Pointen. Jetzt gilt die Konzentration aber zunächst mal diesem in jeder Hinsicht gewaltigen Konzert in weniger als 30 Stunden. Gerade kommt Daniel Wirtz die Tür rein, seinen Beitrag „Wenn sie diesen Tango hört“ hätte man nicht unbedingt beim eher härter bandagierten Hessen verortet; vielleicht bleibt die Nummer gerade deswegen derartig hängen. Schön für die Fans wird „Major Tom“ werden, dessen ist sich jeder geneigte Hörer des Soundchecks sicher. Zu netten Lichteffekten darf die Band ihrer Spielfreude frönen und ihr Stuttgarter Kumpel aus dem Münchner Asyl, Pierre Michael Schilling, noch bekannter unter seinem Künstlervornamen Peter, lässt seinen Tommy das Arenadach heben.
Die Beweislage ist erdrückend: Dieses Konzert genießt seinen Ruf zu Recht, es verdient diesen Rahmen und dieses Publikum. Es verdient den immensen Aufwand, der sich insbesondere aus technischer Sicht definitiv lohnt: In kleiner Gruppe konstatieren mit durchaus offenen Mündern, niemals einen besseren Schlagzeugsound unter derartigen Umgebungsbedingungen gehört zu haben. Es gäbe weitere Indizien für Meisterleistung auf der FOH-Seite.
Und Cherry? In wenigen Stunden ist Generalprobe, wenige Stunden weiter und der noch größere Moment ist, noch mehr wenige Stunden weitergedacht und Ausruhen ist angesagt, wahrscheinlich auch Runterkommen von dieser Ansammlung besonderer Momente. Vielleicht gehen in seinem Kopf dann sehr schnell neue Weisen um von Ed Sheeran und Bruno Mars. Die mag er nämlich gerade. Unter anderem. Es lebe der Funk der Siebziger. Hooray! Es lebe Cherry Gehring, großartiger Typ, genialischer Keyboarder, unbesiegbarer Liebhaber schöner Musik.