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Extras

Künstler

2014.06.14

Liam Howlett

Sieben lange Jahre hat man nichts vom Prodigy-Frontmann Liam Howlett gehört. Aber jetzt legt er wieder ein neues Album (und eine neue Einstellung) vor…

Im Juni 1997 war Osama Bin Laden noch ein völlig unbekannter Name. George W. Bush übrigens auch. Handys konnten sich nur Yuppies und Drogenhändler leisten, und Gerhard Schröder wurde gerade erst zu einem Begriff. Seither hat sich ziemlich viel verändert, und ob seit Vorstellung des letzten Prodigy-­Albums vieles besser geworden ist, sei dahingestellt. Die politische Bühne ist eine andere, die Musikinstrumente haben sich geändert – sogar das Jahrhundert wurde ausgetauscht.

Das braucht man Liam Howlett natürlich nicht zu erzählen. Und so ist er bestens auf die bohrende Frage vorbereitet, die man ihm in letzter Zeit –seit Vorstellung des neuen Prodigy-­Albums „Always Outnumbered, Never Outgunned“– pausenlos stellt:
Wieso hat es so lange gedauert?

„Schauen wir uns die einzelnen Jahre doch einmal an.“, antwortet er. „In den drei Jahren bis 2000 waren wir pausenlos auf Tour. Schließlich wollten wir das neue Album („Fat Of The Land) überall auf der Welt vorstellen. Das war dann doch sehr ermüdend. Ich wollte die Gruppe zwar nicht auflösen, aber auf neuerliche Studioarbeiten hatte ich eigentlich keinen Bock. Also habe ich ein Jahr Pause gemacht. Danach habe ich dann sechs Songs eingespielt, darunter ‘Baby’s Got A Temper’.“

Ach ja, „Baby’s Got A Temper“, jene unselige, 2002 veröffentlichte Prodigy­-Single, die hoffentlich schon alle vergessen haben. Sie war grässlich, eine missratene Parodie der Band, ganz zu schweigen von dem umstrittenen „We take Rohypinol“­-Vers im Refrain. Die Kritik war gnadenlos. Selbst Liam möchte den Titel zwei Jahre danach nicht in Schutz nehmen.

Zurück zum Groove

„Es war mit Abstand das Schlechteste, was ich je verbrochen habe. Die Plattenfirma übte aber einen so gewaltigen Druck aus, dass ich irgendwann eingewilligt habe. Es war wie das Spiegelbild der Band zu jener Zeit – ein riesen Misthaufen.“

Trotzdem hatte jenes Audio­-Desaster auch einen Vorteil. Liam selbst gesteht, dass es für ihn ein gewaltiger Tritt in den Allerwertesten war. „Plötzlich ordneten sich meine Gedanken wieder. Ich dachte nur: Wenn wir doch schon fünf Jahre herumsitzen, kann ich auch gleich alles wegwerfen. Und so begann ich von vorne. Das neue Album ist das genaue Gegenteil dessen, was man wahrscheinlich von uns erwartete. Der Groove spielt wieder die Hauptrolle.“

„Always Outnumbered, Never Outgunned“ enthält tatsächlich keinerlei Rückstände der beiden Band­-Seiten: MC Maxim und Keith Flint. Stattdessen werden Gesangsfetzen von Leuten wie Juliette Lewis und Liams Schwager Liam Gallagher verwendet. Den Prodigy­ Gehalt hört man dennoch klar heraus. Nur hat Howlett der Punk-­Sackgasse, in der die Band nun schon so lange herumtorkelte, endlich den Rücken gekehrt.

Neuer Ansatz 

„Ich musste mir erstmal den Namen sichern“, erklärt. „The Prodigy ist keine Band. Wir haben der Welt immer vorgegaukelt, wir seien eine, aber das stimmt nicht. Im Grunde gab es nur mich und die Grooves. Beim neuen Album habe ich mich mehr auf die Musik als auf den Gesang konzentriert.

„Das habe ich Maxim und Keith gesagt, und sie fanden das in Ordnung. Schließlich wissen sie beide, dass keine Einzelperson über die Band hinausragt. Wir sind übrigens immer noch beisammen. Live sind die beiden zwar unverzichtbar, aber in Wahrheit ist dies ein Liam Howlett Prodigy ­Album.“


Diese Verlagerung ist einer neuen Arbeitsweise und einem anderen Gerätepark zuzuschreiben. „Anfangs habe ich im Studio mit Cubase gearbeitet. Immer noch. Stell dir vor, nicht die Audio­, sondern die Version 3.5 MIDI. Mein Produzent/Programmierer Neil McCleland und ich haben alles eingespielt, die Melodien geschrieben und das Ganze dann zu Pro-Tools übertragen. Damit habe ich ein ganzes Jahr in meinem Studio zugebracht – und es wollte einfach nicht vorwärts gehen. Jedes Mal, wenn ich im Studio ankam, hing da quasi eine schwarze Wolke. Es war sehr deprimierend. Ich glaube, ich habe in jenem Jahr nur drei funktionierende Grooves zustande gebracht.“

Erst mit der Anschaffung eines G4-­Laptops begann sich etwas zu bewegen. „Neil zeigte mir Reason. Es erschien mir so einfach – fast wie ein Computerspiel. Und den Laptop konnte ich überall mit hin nehmen. Mir war klar, dass jetzt schnell etwas passieren musste, und so habe ich meinen Oberheim Four Voice, den KORG MS20, einen Phoenix-­Kompressor, einen Culture Vulture Verzerrer, den Manley EQ und den microKORG aus meinem Studio geholt. Danach habe ich die Tür verschlossen und bin seither nie wieder hinein gegangen. Es ist immer noch verschlossen. Ich kopierte alle Schlagzeug-­Sounds und Samples, die ich in den letzten 10 Jahren gesammelt hatte, zu meinem Laptop. Das Studio habe ich nicht mehr betreten – es dürfte inzwischen ein Mausoleum sein.

Die Geräte habe ich nach Stoke Newington gebracht, wo wir jenes coole Studio gemietet hatten. Und dort haben wir fünf Monate lang gearbeitet. Von Anfang an fühlte ich mich dort richtig wohl, wie ausgewechselt. Und dann kam auch die Musik wieder. Komponiert habe ich ausschließlich mit Reason. Danach haben wir dann weiter an den Songs gefeilt. Da man mit Reason aber keine Audiosignale aufnehmen kann, habe ich für die Bass­Sounds den Oberheim oder den KORG MS20 gebraucht.“ 

Der KORG-­Enzieher

Liam ist seit jeher ein großer Fan der KORG-­Synthis. „Der MS20 ist der helle Wahnsinn. Nach jedem Einschalten klingt er anders. Sein Bass und die Filter sind allererste Sahne. Wenn ich etwas völlig Verrücktes brauche, nehme ich den MS.“

Nach der Schreibphase in Stoke Newington zogen Liam und sein Team mit Gesang in das Whitfield Street­-Studio, wo es dann ans Eingemachte ging. „Als wir uns die Musik über die großen Lautsprecher anhörten, war sofort klar, dass es noch mehrere Löcher zu stopfen galt. Vor allem der Bassbereich war noch ausgesprochen dünn vertreten. Folglich haben wir den MS20 und microKORG aufgestellt und angeschlossen.“

Vor allem der microKORG ist nachhaltig auf dem Album vertreten. „Beim Schreiben erschien er mir oft unverzichtbar. Für Bass­ und Subbass­-Sachen war er erste Wahl. Er stellt z. B. den Bass von ‘Girls’ (die erste Single mit starken Electro-­Reminiszenzen) sowie viel ultratiefes Rumpeln, mit dem wir den Titeln mehr Konsistenz gegeben haben: Subbass bei ‘Memphis Bells’, Subbass und Einwürfe bei ‘Wake Up’… Außerdem enthält er jenes Human League­artige Rauschen, das z.B. am Ende von ‘To The End’ und ‘Spitfire’ verwendet wird.

Der microKORG ist genial. Erst bei großen Boxen merkt man seinen Tiefgang. So klein und trotzdem so viel Power. Mittlerweile höre ich die Sounds auch aus den Titeln anderer Künstler heraus, z.B. bei ‘Trick Me’ von Kellis. Der Bass stammt eindeutig vom microKORG. Er ist mein Lieblings­Keyboard, weshalb ich jetzt auch drei davon besitze. Das nennt man Luxus.“


Es hat rein gar nichts mehr mit den ersten Prodigy­ Songs zu tun, die mit den Roland­-Geräten eingespielt wurden, welche sich Liam als 18­-Jähriger zugelegt hatte. Was hält Liam heute von jenen alten Rave­ Titeln?

„Ich höre mir unsere Musik nicht gerne an, weil ich immer etwas an der Produktion auszusetzen habe. Für mich schienen das erste und zweite Album von zwei unterschiedlichen Gruppen zu stammen. Es war fast so, als hätten wir uns getrennt und uns danach zu einer völlig neuen und besseren Prodigy zusammengefunden.“


Seit „Fat Of The Land“ hat sich die Musikszene drastisch gewandelt. HipHop und R’n’B sind erwachsen geworden und gehören heute zu den risikofreudigsten Genres der Welt. Garage hat sich innerhalb weniger Jahre gleich mehrmals verändert, während die House-­basierte Dance-­Szene im Vereinigten Königreich so gut wie tot ist. Letztere Entwicklung findet Liam übrigens alles andere als schlimm.

„Das betrifft uns sowieso nicht. Ab dem zweiten Album hatten wir mit der Dance-­Szene schließlich nichts mehr am Hut. Wir haben uns auf die Festivals gestürzt und die Dance­-Leute besuchten jene Festivals einfach. Das neue Album erinnert zwar an Dance, ist aber ganz klar von Prodigy. Ich finde 32­-taktige Beats ohne Akkordwechsel einfach öde. Ich versehe so etwas gerne mit kleinen Einwürfen und versuche lieber, etwas aufzubauen. Clubmusik funktioniert nur, wenn auch eine Prise Trance im Spiel ist. Das genau findet man auf dem Album aber nicht.“

Falls er überhaupt nervös ist, ob und wie man ihn nach all den Jahren empfangen wird, lässt er sich nichts anmerken. „Ach weißt du, ich habe meinen Job gemacht. Jetzt kann ich nichts mehr tun. Wenn ich mir das Album aber anhöre, überkommt mich ein Prickeln, verstehst du? Es klingt frisch. Nervös also nicht – eher aufgeregt.“

Wer jetzt glaubt, dass bis zum nächsten Album wieder sieben Jahre vergehen werden, muss aber umdenken. Liam hat sich inzwischen die neue KORG Legacy Collection dreier legendärer Synthis zugelegt und möchte unbedingt damit arbeiten. „Da sie Laptop­basiert sind, passen sie mir perfekt in den Kram“, schmunzelt er. „Der alte MS20 ist zwar fantastisch, hat aber keinen Speicher. Schon allein deshalb ist Legacy ein Volltreffer. Schade, dass es diese Software nicht schon länger gibt.“

„Jetzt, da meine kreative Ader wieder sprudelt, schreibe ich natürlich gleich weiter. Dranbleiben lautet momentan meine Devise. Obwohl das neue Album gerade erst fertig ist, habe ich noch genug Ideen, um mich gleich an das nächste zu machen.“